Der Hausschlüssel

 

Beim Tenglbauer in Mieders gaben einst alle sechs Kühe nur mehr ein Fraggele Milch. Als alle Mittel, die man an denselben anwandte, erfolglos blieben, gieng der Bauer zu einem Viehdoctor nach Hall.

Dieser wurde früher einmal zu einer schwerkranken Hexe gerufen, welche ihm versprach, falls er sie heile, alle Kunstgriffe, mit denen man Hexereien unschädlich machen könne, anzugeben. Nachdem sie auch durch seine Hilfe glücklich wieder genesen war, mußte sie Wort halten, und der Thierarzt war seitdem sehr gesucht. Der gab nun dem Bauern den Rath, das bißchen Milch, welches die Kühe zuletzt gegeben hatten, in ein Pfännlein zu schütten, den Hausschlüssel darein zu legen und dasselbe dann über das Feuer zu setzen. Hierauf sollte er mit seinem Weibe in die Kirche gehen, die Kinder aber zuvor noch gut segnen und sie allein in der Küche zurücklassen, mit dem Auftrag, tüchtig nachzuschüren und niemanden hereinzulassen, geschweige denn, jemandem etwas zu leihen.

Der Bauer that alles genau, was ihm der Viehdoctor gerathen hatte und gieng, nachdem die Kinder Thüre und Fenster der Küche von innen sorgfältig verschlossen hatten, mit seiner Ehehälfte zum Gottesdienst. Das Fraggele Milch war bald eingesotten, wobei es sich blutroth färbte. Bald begann der Hausschlüssel zu glühen. Jetzt hörten die Kinder im Kamin oben einen Lärm, als ob man alle „Mog’nstessar“*) der ganzen Gemeinde darin herumschlagen würde. Allein sie fürchteten sich nicht im geringsten und legten immer fleißig Holz zu.

Als die Eltern von der Kirche zurückgekehrt waren und am Fenster klopften, machten sie ihnen freudig auf und erzählten denselben, was sich in ihrer Abwesenheit zugetragen hatte. Da kam die Nachbarin hereingelaufen und bat dringend um eine Salbe, denn sie habe am Arme schreckliche Schmerzen. Der Bäurin stieg gleich ein Argwohn auf, sie streifte der Nachbarin einen Ärmel zurück und das Brandmal von dem glühenden Hausschlüssel auf der Haut. Nun wußte man, wer alle sechs Kühe gemolken hatte.

Quelle: Sagen aus Innsbrucks Umgebung, mit besonderer Berücksichtigung des Zillerthales. Gesammelt und herausgegeben von Adolf Ferdinand Dörler, Innsbruck 1895, Nr. 101.